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75 Jahre "Machtergreifung": Kampfansage vor dem Kaufhaus

Foto: Keystone/ Getty Images

75 Jahre "Machtergreifung" Kampfansage vor dem Kaufhaus

Es war der erste große Gewaltakt der Nazis gegen die deutschen Juden: Heute vor 75 Jahren inszenierten Hitlers Schergen den deutschlandweiten Boykott jüdischer Geschäfte. Die Attacke der selbsternannten Arier gegen die Minderheit scheiterte kläglich - doch Zweifel an den Absichten der Nazis gab es jetzt nicht mehr.
Von Ernst Piper

Am 23. März 1933 war das Ermächtigungsgesetz verabschiedet worden. Die Regierung des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler konnte nun ohne Parlament Gesetze beschließen - selbst solche, die von der Verfassung abwichen. Auch konnten sie nun vom Kanzler anstelle des Reichspräsidenten ausgefertigt werden. Damit war Präsident Paul von Hindenburg, in dem viele Angehörige des konservativen Bürgertums das letzte Bollwerk gegen die Nazis gesehen hatten, weitgehend entmachtet. Die nationalsozialistische Prägung des in wenigen Wochen errichteten diktatorischen Regimes wurde immer deutlicher erkennbar.

Die neuen Machthaber inszenierten ihre "Revolution" in drei demonstrativen Gewaltakten. Am 1. April 1933 gab es einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, am 2. Mai wurden die freien Gewerkschaften zerschlagen und am 8. Mai fanden in vielen deutschen Städten Bücherverbrennungen statt. Es waren klare und gezielte Kampfansagen an die jüdische Minderheit, an die organisierte Arbeiterbewegung sowie gegenüber allen regimekritischen Intellektuellen und Wissenschaftlern. Julius Streicher, früher Weggefährte Hitlers und Verleger des primitiven Hetzblattes "Der Stürmer", wurde von Adolf Hitler zum Leiter des "Zentralkomitees zur Abwehr der jüdischen Gräuel- und Boykotthetze" ernannt, das die antisemitischen Aktionen und Boykotte zentral steuerte.

Der offene Terror hatte zu diesem Zeitpunkt schon erste Opfer gefordert. Bereits in den ersten Wochen der braunen Diktatur waren Juden waren auf offener Straße angegriffen, in Folterkeller oder "wilde" Konzentrationslager verschleppt worden. Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden eingeschlagen, die Entlassung jüdischer Angestellter und Beamter erzwungen. Kauhäuser, die ganz besonders als Symbole des "raffenden Kapitals" der Juden, im Gegensatz zum "schaffenden Kapital" nichtjüdischer Unternehmer, galten, wurden von entfesselten SA- oder SS-Horden verwüstet.

Parolen aus der Parteizentrale

Doch das alles genügte den neuen Herren noch nicht. Hitler und sein Chefpropagandist Joseph Goebbels dachten über eine zentral gesteuerte Aktion nach, die zum einen gewisse Auswüchse auf lokaler Ebene überwinden und zugleich ein weithin sichtbares Signal setzen sollte. Am 30. März erging aus Berlin ein Rundschreiben an die Parteigliederungen der NSDAP, das es jeder Ortsgruppe der Nazi-Partei zur Pflicht machte, ein Aktionskomitee "zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte" zu bilden.

Tatsächlich marschierten zwei Tage später in allen Teilen des Deutschen Reiches uniformierte Trupps vor den jüdischen Geschäften auf, die in Sprechchören die offizielle Parole riefen: "Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!" Die Schaufenster wurden mit antisemitischen Parolen beschmiert und mit Plakaten beklebt, auf denen in deutscher wie teils auch in englischer Sprache zu lesen stand, Deutsche würden sich gegen die jüdische Gräuelpropaganda wehren und nur bei Deutschen kaufen.

Der gewalttätige Antisemitismus der letzten Monate war im Ausland nicht unbemerkt geblieben. Es hatte kritische Reaktionen in den europäischer Nachbarländer, aber auch in den Vereinigten Staaten gegeben. In einigen Fällen hatten sogar Geschäftsleute ihre Beziehungen zu ihren deutschen Partnern beendet. Dies alles wurde von den Nazis angeprangert als Ergebnis jüdischer "Gräuelpropaganda und Boykotthetze" und galt als Beweis für den Einfluss der Juden in der Welt. Ergebnis dieser perversen Logik war es, dass die sehr berechtigte und eher zurückhaltende Kritik an antisemitischen Übergriffen als Vorwand für noch schlimmere Attacken diente.

Gesinnungsprüfung für Beamte

Die Nazis bewegten sich hier ganz in den Bahnen des modernen Antisemitismus seit der Kaiserzeit. Ihr Handeln war geprägt von dem Wunsch nach einer Rückabwicklung der Judenemanzipation, wie sie im 19. Jahrhundert stattgefunden hatte. Und solange diesen Maßnahmen in Form von Gesetzen ein pseudolegales Mäntelchen umgehängt wurde, war vom deutschnationale Koalitionspartner und auch vom Reichspräsidenten ernsthafter Widerstand nicht zu erwarten.

Doch dem Boykott am 1. April war bei allem propagandistischen Aufwand kein rechter Erfolg beschieden. Am nächsten Tag, einem Sonntag, waren ohnehin alle Geschäfte geschlossen. Am Montag war die Boykottfront schon weitgehend abgebröckelt, am folgenden Tag dann wurde die ganze Aktion sang- und klanglos eingestellt.

Eine Woche nach der Radau-Aktion in den Geschäftsstraßen folgte die erste einschneidende Gesetzgebungsmaßnahme auf der Basis der neuen Rechtslage. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April bestimmte: "Beamte, die nicht-arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen." Hier wurde nun Ernst gemacht mit der von den Nazis seit jeher geforderten "Entfernung" der Juden. Lediglich aus Rücksicht auf Reichspräsident Hindenburg gab es Ausnahmebestimmungen für jüdische Beamte, die im Krieg für Deutschland an der Front gekämpft hatten oder deren Väter oder Söhne gefallen waren. Auch politisch Andersdenkende wurden jetzt nicht länger geschont: "Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden."

Der "Arierparagraph" macht Schule

Ganz im Sinne des neuen Gesetzes folgten Verordnungen, die jüdische Lehrer, Apotheker und Ärzte, Rechtsanwälte und Notare betrafen. Schon früher hatte es in vielen Organisationen sogenannte Arierparagraphen gegeben, die von allen Mitgliedern den Nachweis "arischer", das heißt nichtjüdischer Abstammung verlangten, zum Beispiel bei vielen schlagenden Verbindungen, im Deutschen Turnerbund, beim "Stahlhelm", den Alldeutschen und vielen anderen nationalistischen Verbänden - aber auch beim völkisch orientierten Teil der Lebensreformbewegung, etwa Vereinen der Wandervogel-Bewegung. Nun wurde dieses dem staatsbürgerlichen Gleichheitsgrundsatz widersprechende Apartheiddenken offizielle Regierungspolitik. Weit über tausend sonderrechtliche Vorschriften waren es am Ende, die jüdisches Leben in Deutschland nahezu unmöglich machten.

Noch stand Reichskanzler Hitler formell einer Koalitionsregierung aus seiner NSDAP und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) vor - doch die Deutschnationalen waren bereits in voller Auflösung. DNVP-Reichsarbeitsminister Franz Seldte, der auch Führer der Kriegsveteranenorganisation "Stahlhelm" war, trat am 27. April zur NSDAP über. Zugleich leitete er die Überführung der jüngeren "Stahlhelm"-Mitglieder in die SA in die Wege, wofür Hitler ihn mit dem Rang eines SA-Obergruppenführers belohnte. Seldte, der all die Jahre immer einen besonders scharfen antidemokratischen Kurs verfolgt hatte, passte sich ohne Mühe in die politische Ordnung des Dritten Reiches ein.

Anders der Vorsitzende der DNVP, der reaktionäre Medienzar Alfred Hugenberg. Er war am 30. Januar 1933 im Alter von 67 Jahren erstmals Minister geworden. Ähnlich wie Vizekanzler Franz von Papen hatte er geglaubt, man könne einen Reichskanzler Hitler "einrahmen" und unter Kontrolle halten; immerhin stellte seinen die Nationalsozialisten zunächst nur zwei von zehn Reichsministern. Doch das erwies sich sehr rasch als Illusion. Die Gewichte verschoben sich rasend schnell zugunsten der Nazis. Als sich die DNVP am 26. Juni 1933 gezwungenermaßen auflöste, trat Hugenberg resigniert von seinem Amt als Reichswirtschaftsminister zurück. Der Mann der Stunde war Hjalmar Schacht, den Hitler am 17. März erneut zum Reichsbankpräsidenten berufen hatte und der sich nun daran machte, die Finanzierung von Hitlers Aufrüstungsplänen sicherzustellen.


Ernst Piper schreibt auf einestages über das erste Jahr, in dem die Nazis in Deutschland an der Macht waren - 75 Jahre danach, Monat für Monat.

Im Mai lesen Sie:

Nach der Sicherung der politischen Macht begann die Formierung des nationalsozialistischen Staates. Den 1. Mai machten die Nazis zum Feiertag, Hitler ließ sich als Führer einer rassistischen Volksgemeinschaft feiern. Am Tag danach wurden die freien Gewerkschaften zerschlagen. Es entstand die Deutsche Arbeitsfront, mit 22 Millionen Mitgliedern eine weltweit konkurrenzlose Organisation.


Vom selben Autor:

Ernst Piper: Kurze Geschichte des Nationalsozialismus von 1919 bis heute. Verlag Hoffmann und Campe. Hamburg 2007