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Geschichte Juden in Deutschland

Neid machte die Deutschen zu glühenden Antisemiten

Reporter
Warum wurden die Juden ausgerechnet hierzulande zur mörderisch verfolgten Minderheit? Der Historiker Götz Aly gibt jetzt eine verblüffende Antwort.

Wenn Sie das nächste Mal bei Ihren Nachbarn zu einer Geburtstagsparty eingeladen sind, dann machen Sie – beiläufig, zwischen einem Prosecco und einen Mojito – die Probe aufs Exempel. Sagen Sie einfach, ohne ihre Stimme zu erheben oder zu senken, den Satz: "An allem sind die Juden und die Fußgänger schuld." In neun von zehn Fällen wird Ihr Gegenüber mit der Frage reagieren: "Wieso die Fußgänger?"

Sollten Sie beabsichtigen, den Rest des Abends allein zu verbringen, dann machen Sie weiter und fragen zurück: "Wieso die Juden?" Möchten Sie aber bestehende Freundschaften nicht aufs Spiel setzen, dann sagen Sie einfach: "Das frage ich mich auch" und beenden das kleine Experiment.

Der beliebte Sündenbock

Natürlich ist Ihr Nachbar kein Antisemit. Er hat schon im Toten Meer gebadet, hört daheim Klezmer-Musik und liebt den Humor von Woody Allen. Aber, um Fassbinder zu zitieren: "So denkt es in ihm." Dass die Juden an allem schuld sind, am Atheismus und am Christentum, am Marxismus und der Psychoanalyse, am Sozialismus und am Kapitalismus, an Hollywood und Pornografie, an fallenden und an steigenden Aktienkursen, das ist so selbstverständlich, dass auch Menschen, die relativ frei von Ressentiments sind, die Judenkarte ziehen, wenn ihnen Sündenböcke zur Auswahl angeboten werden.

Lügen mögen kurze Beine haben, aber sie haben einen langen Atem. Das ist der Kern der Judenfrage. Es gibt sie, weil es sie schon immer gegeben hat.

"Ganze Bibliotheken sind schon über die Judenfrage geschrieben worden, weitere Bibliotheken werden geschrieben werden. Die Judenfrage aber ist und bleibt unlösbar", schrieb der deutsch-jüdische Philosoph Theodor Lessing 1932, ein Jahr bevor er von den Nazis in seinem Marienbader Exil ermordet wurde.

In der Tat könnte man den 15 Kilometer langen Gotthard-Tunnel mit den Titelseiten der Bücher tapezieren, die von der Judenfrage handeln. Beinah täglich kommen neue dazu . So ist man versucht "Um Himmels Willen! Nicht noch eines!" zu rufen, wenn eine Neuerscheinung angekündigt wird. Aber diesmal ist es anders.

Aly stellt eine originelle These auf

Erstens ist Götz Aly eine Ausnahmeerscheinung unter deutschen Historikern . Er schreibt verständlich und greift auch gerne Themen auf, um die andere einen Bogen machen. Zum Beispiel die Geschichte eines jüdischen Kondomfabrikanten oder die mentale Verwandtschaft zwischen den "Antifaschisten" der RAF und den jungen Karrieristen im Dritten Reich. Aly hat nicht nur eine eigene Meinung , er artikuliert sie auch deutlich, was ihm in der Zunft der Historiker, wo man gerne "objektiv" ist und "Äquidistanz" zu den Gegenständen des wissenschaftlichen Interesses pflegt, nicht nur Lob eingebracht hat.

Zweitens kann man sich bei Aly darauf verlassen, dass er nicht, wie im Gewerbe üblich, anderer Leute Werke recycelt, sondern eine originelle These aufstellt, die er begründet. Erst ist der Leser ungehalten, weil ihm einiges zugemutet wird, am Ende aber um viele Einsichten reicher, auch darüber wie "es" in ihm denkt. Alys neues Buch – "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" – ist so ein Augenöffner, der mit einer banalen Frage anfängt. "Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund, weil sie Juden waren?"

Kein anderer Historiker würde es wagen , ein Buch über die Deutschen, die Juden und den Antisemitismus mit einer solchen Frage zu beginnen. Denn die ist längst beantwortet. Der Hass auf die Juden ist ein Produkt der christlichen Lehre, des kapitalistischen Systems und der mangelnden Bereitschaft der Juden, sich ihrer Umgebung anzupassen.

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Dumm an diesen Erklärungen ist nur, dass es sehr wohl christlich geprägte Gesellschaften gab, die vom Antisemitismus nicht oder kaum kontaminiert waren, dass der Antisemitismus in nicht-kapitalistischen Gesellschaften wie der SU weiter wütete und dass er dort seinen historischen Siedepunkt erreicht hat, wo sich die Juden am stärksten assimiliert hatten – in Deutschland.

Eine akzeptable Begründung für Neid

Aly verlässt die ausgetreten Pfade der räsonierenden Wissenschaft und geht eigene Wege. Die Kraft, aus der sich der Judenhass speist, sei der Neid. Die "Rassentheorie" von der Minderwertigkeit der Juden sei nur darüber gestülpt worden, um dem Neid eine gesellschaftlich akzeptable Begründung zu verpassen.

Dabei, schreibt Aly, "vergiften die Neider sich selbst, werden immer unzufriedener und noch gehässiger". Sich selbst "erheben sie zu anständigen, moralisch superioren Wesen", wobei sie "das eigene Versagen als Bescheidenheit" bemänteln und den von ihnen Beneideten vorwerfen, sie spielten sich "lärmend in den Vordergrund". Zusammengefasst: "Der Neidhammel sucht den Sündenbock."

Woher kommt der Neid der Judenhasser auf die Juden, wenn diese nur minderwertige Kreaturen seien? Kann man auf jemand neidisch sein, den man verachtet? Man kann. Was nichts mit der "jüdischen Intelligenz" zu tun hat, sondern mit der Geschichte der Juden. "Sie besaßen, was die Deutschen so sehr vermissten..., ihre jahrtausendealte, allein ihnen gehörende Sprache, Schrift, Tradition und Religion". Obwohl als "wurzellos verschrien", hatten sie, wonach sich die Germanen sehnten, "tiefe bedeutsame Wurzeln", die ihnen halfen, trotz Anpassung "das Eigene" zu bewahren. "Wer der ewige Jude war, das stand fest. Der ewige Deutsche wurde seit 1800 gesucht."

Hinzu kam, dass die besitzlosen Juden in der "untergehenden Welt der Zünfte und Stände... nichts zu verlieren, in der Zukunft dagegen alles zu gewinnen" hatten. Es kam ihnen zugute, dass sie Bürger zweiter Klasse waren; sie konnten sich nur verbessern, während ihre christlichen Mitbürger aus Angst vor sozialen Veränderungen ins Hintertreffen gerieten. So entstanden antisemitische Vereine und Parteien, die auf ihre Fahnen den Schutz der christlichen Mehrheit (99 Prozent der Bevölkerung) vor der jüdischen Minderheit (1 Prozent) geschrieben hatten.

Seelenspeise für Verlierer

Der Antisemitismus war und ist nicht nur der "Sozialismus der dummen Kerls" (August Bebel), er ist eine Seelenspeise, mit der sich die Verlierer trösten. "Die Verschlafenen neigen dazu, Trägheit als Nachdenklichkeit, mangelnde Schlagfertigkeit als Tiefsinn, fehlende Bildung als Innerlichkeit auszugeben", schreibt Aly und wird sich damit die Kritik jener zuziehen, die glauben, man könne den Antisemitismus mit Aufklärung bekämpfen, man müsse den Antisemiten nur klar machen, welchen Beitrag die deutschen Juden zur deutschen Kultur geleistet, wie viele Nobelpreise sie gewonnen und wie tapfer sie im Ersten Weltkrieg gekämpft haben.

Das Gegenteil ist der Fall. Eine solche Betonung jüdischer "Tugenden" wird den Antisemiten in seinem Gefühl der Unterlegenheit nur bestärken. Denn er hasst den Juden nicht dafür, was er sagt oder tut, er hasst ihn, weil er da ist.

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Götz Alys Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt. Die deutsche Schicksalsfrage – "Wie hältst du es mit den Juden?" – liegt wieder auf dem Tisch, nur dass es diesmal um Israel geht. Die Linkspartei will als erste deutsche Partei das "Existenzrecht Israels" in ihr Programm aufnehmen, was ebenso kurios ist wie die antisemitisch-antizionistischen Aktivitäten einzelner Mitglieder der Linkspartei. Hört man die Politiker von der "besonderen deutschen Verantwortung für Israel" sprechen, könnte man auf die Idee kommen, Israel sei das 17. Land der Bundesrepublik.

Auf eine unheimliche Weise sind Deutsche und Juden miteinander verbunden. Sie können zueinander nicht finden, aber richtig auseinander zu gehen, das schaffen sie auch nicht. Vielleicht ist dies das Wesen der deutsch-jüdischen Symbiose, eine wilde Affäre, die von der Frage zusammengehalten wird: "Was ham die, das wir nicht haben?"

Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933. S. Fischer, Frankfurt/M. 336 S., 22,95 Euro.

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